Am Münchner Hauptbahnhof riecht es jetzt öfters nach Marihuana. Getrocknete Hanfblüten, Hanf-Öl, -Schokolade und -Lutscher kann man ohne Rezept in einem kleinen Shop neben einem Supermarkt kaufen. Die Einrichtung erinnert an ein Hipster-Geschäft, die Theke ist weiß, die Retro-Schränke könnten aus einer alten Apotheke stammen. Kein „Bob Marley“-Poster hängt an der Wand, und der Verkäufer trägt keine Rastazöpfe.
Und auch das THC fehlt, der Stoff, der Cannabis seine rauschhafte Wirkung verleiht. Stattdessen enthält hier alles Cannabidiol, kurz CBD. Das Molekül stammt aus der weiblichen Hanfpflanze und wirkt antientzündlich, angstlösend und entspannend, auch auf die Muskulatur. Es bindet an Rezeptoren im körpereigenen Endocannabinoidsystem. Während THC im Cannabis für den aktivierenden und psychoaktiven Rausch sorgt, ist CBD das beruhigende und neuroprotektive Gegenstück. Drei Tropfen unter die Zunge geträufelt, und Nervosität, Kopfschmerzen und Entzündungen verschwinden – so versprechen es sich jedenfalls viele Konsumenten. Das dunkelgrüne Hanf-Öl wird als Kapsel oder in Tropfenform dargereicht, es schmeckt bitter mit pflanzlicher Würze, die an den Geruch feuchter Erde oder Moos erinnert.
Der Coca-Cola-Konzern bekundete kürzlich Interesse an einem Cannabinoid-Getränk
Der gewöhnungsbedürftige Geschmack schmälert den Hype nicht. In New York ist die plötzliche Verbreitung von CBD-versetzten Lebensmitteln wie Cocktails, Brownies und Kaffees derart außer Kontrolle geraten, dass die Behörden Geldstrafen gegen Restaurants und Cafés verhängen, die ihrer Speisekarte mit CBD Reiz verleihen. Auch in Deutschland kann man CBD beim Drogeriemarkt kaufen, Start-ups und Geschäfte schießen in Großstädten aus dem Boden. Der Coca-Cola-Konzern bekundete kürzlich Interesse an möglichen Cannabinoid-Getränken.
Konsumenten jubeln in Internetforen, CBD habe sie von Depressionen, Muskelspasmen und chronischen Gelenkschmerzen befreit. Gleichzeitig berichten enttäusche Schmerzpatienten, dass sie keine Wirkung des Hanfelixiers spüren. Viele fragen sich zudem, ob CBD-Öl nicht illegal ist. Die einen sehen in CBD ein seriöses Medikament oder Naturprodukt, die anderen ein neues, gefährliches „Legal High“.
Zur Verwirrung trägt bei, dass es Händlern von CBD-Öl in Deutschland nicht gestattet ist, Dosierungen zu empfehlen oder aufzuführen, was CBD bewirkt. Die Produkte gelten als Nahrungsergänzungsmittel und dürfen somit keine ausgeprägte pharmakologische Wirkung haben und nicht therapeutisch beworben werden. Gleichzeitig fällt damit die Kontrolle weg: Für Medikamente muss eine Wirkung nachgewiesen sein, für Nahrungsergänzungsmittel nicht. Auch die Zusammensetzung wird nicht im gleichen Maße reguliert. Eine ideale Gemengelage für Betrüger, die das schnelle Geschäft wittern.
Tatsächlich halten viele Produkte in Onlineshops nicht, was sie versprechen, wie Forscher aus Italien vor Kurzem anhand von Stichproben gezeigt haben. Bei rund zwei von drei der in Europa gekauften Produkte entsprach der CBD-Gehalt auf dem Etikett nicht dem Inhalt. Einige enthielten gar kein CBD, eins mehr THC als erlaubt. Das wurde auch Händlern in München vor wenigen Tagen zum Verhängnis, als etwa 180 Polizeibeamte verschiedene Hanf-Shops durchsuchten, darunter auch den am Hauptbahnhof. Verdacht: zu viel THC in den Produkten.
Auch in Brüssel herrscht Unsicherheit. Die EU berät derzeit, ob CBD ein „novel food“ ist, ein neuartiges Lebensmittel. Die entsprechende Richtlinie besagt, dass alle Lebensmittel, die nach 1997 eingeführt und verzehrt wurden, geprüft werden müssen, bevor sie auf den Markt kommen dürfen. Herstellern von CBD stünden für die Zulassung Kosten in Millionenhöhe und langwierige Verfahren bevor – für jedes Produkt.
„Wenn das Hanf-Extrakt die gleiche natürliche Konzentration hat wie die Nutzpflanze, sollte es gemäß der EU-Richtlinien kein neuartiges Lebensmittel sein“, findet Lorenza Romanese, Sprecherin des Europäischen Industriehanf-Verbands. Der Ursprung der Öle spielt wohl eine Rolle: Einige werden nicht aus Hanf gepresst, sondern sind Speiseöle, denen künstlich CBD-Kristalle beigesetzt wurden. Dadurch könnten sie kein natürliches Hanfprodukt mehr sein, sondern als „novel food“ gelten.